Mittwoch, 2. September 2015

Wahrheit tut manchmal weh...

So haben alle politischen Parteien in Deutschland im Programm, für mehr Chancengleichheit zu sorgen und den in ihrer Entwicklung Benachteiligten zu mehr Rechten zu verhelfen.
Praktisch wurde aber die Chancengleichheit seit Jahren immer weiter abgebaut. Das Schulsystem diskriminiert noch mehr als in anderen Ländern gegen Kinder, deren Eltern nicht zu den Wohlhabenden gehören (Abb. 17890). In keinem anderen Land sind Bildungsabsteiger gegenüber dem Schulabschluß der Eltern so häufig wie in Deutschland (Abb. 15954). Ein wuchernder Niedriglohnsektor mit Zeit- und Teilzeitverträgen und viel Leiharbeit hält große Teile der Bevölkerung vom Aufstieg ab. Die beruflichen Chancen der Frauen entsprechen weiter nicht denen der Männer, weniger als in fast allen Ländern Westeuropas (Abb. 14224). Die Spitzensteuersätze und die Unternehmenssteuern wurden zugunsten des Kapitals gesenkt, die Vermögenssteuer abgeschafft und auf der anderen Seite Sozialleistungen für die ohnehin Benachteiligten abgebaut. Und vieles mehr. Man kann das in unendlichen Beispielen belegen und viele meiner Wochen- und Rundbriefe haben es in der Vergangenheit getan. Auf diesem Felde der Chancengleichheit kann sich keine der früher oder jetzt regierenden Parteien vom Vorwurf des Verrats freisprechen.



Doch gibt es zwei neue Felder, auf denen Verrat an den Interessen derer, für die sich Parteien und Verbände in Deutschland angeblich einsetzen, bereits stattfindet oder schon vorbereitet wird. Dazu gehört die Politik zur Verteidigung des Euros. Den Vorteil aus dem Euro haben in Deutschland fast nur die Exportunternehmen und deren Aktionäre, weil sie - per Euro gegen Abwertungen in der Eurozone geschützt und nach draußen durch den niedrigen Kurs subventioniert - den Vorteil von deutschen Niedriglöhnen auskosten und ihre Gewinne hochfahren können (Abb. 18926). Nach einer neuen Studie von Ernst & Young wirkt "der schwache Euro bei vielen deutschen Unternehmen als Umsatz- und Gewinnturbo". Normale Menschen, wie sie mit den Parteiprogrammen samariterhaft angesprochen werden, tragen dagegen die Lasten einer immer weiter ausufernden Euro-Transferunion und einer die Sparer schädigenden Zinspolitik der Europäischen Zentralbank und durch den niedrigen Eurokurs überteuerter Einfuhren. Ihre Interessen werden schlicht verraten. Der Verrat wird mit der unsinnigen Behauptung verbrämt, zum Euro gäbe es keine Alternative und ohne Euro Krieg in Europa.

Ein anderes Feld des politischen Verrats hat sich beim Zulauf von Flüchtlingen entwickelt. Sie kommen in immer größerer Zahl (in diesem Jahr werden nun schon 800.000 erwartet, Abb. 18936, 18943) und vor allem aus den vergleichsweise sicheren Balkanländern, werden aber auch nach Ablehnung ihrer Asylanträge kaum abgeschoben. Dahinter stehen nicht zuletzt die Interessen der Arbeitgeber und des von ihnen vertretenen Kapitals an billigen Arbeitskräften. So verlangt die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände: "Die Potenziale in Deutschland lebender Asylsuchender und Geduldeter müssen besser ausgeschöpft werden. Ziel ist, dass diese Personen einen schnelleren Arbeitsmarktzugang erhalten." Auch der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags fordert: "Den Flüchtlingen, die in unserem Land Zuflucht suchen, sollten wir eine Perspektive geben. Für die Wirtschaft seien Menschen mit Migrationshintergrund eine große Chance." Es ist wie seinerzeit bei der Anwerbung von ungebildeten Gastarbeitern aus Anatolien. Wenn dann die Integration bei vielen dieser Menschen nicht klappt, werden die Lasten einfach auf die Allgemeinheit abgeschoben.


Auch der Innenminister macht es sich bisher sehr einfach und meinte bei der Vorstellung der neuen Prognose: "Das ist eine Herausforderung für uns alle; überfordert ist Deutschland mit dieser Entwicklung nicht". Noch einfacher macht es sich Arbeitsministerin Nahles, die nicht für Flüchtlinge Verantwortung trägt, sondern eigentlich das Wohl der deutschen Arbeitskräfte im Auge haben (und nicht verraten) sollte. Im SPIEGEL-Interview erklärt sie vollmundig: "Wir sind eines der reichsten Länder der Welt. Wenn wir es wollen, kriegen wir das gemeinsam auch hin. Wer kann das schultern, wenn nicht wir?" und schließt dann gleich noch den Vorschlag an, die Vorrangprüfung für Menschen aus diesen Staaten, nach der Flüchtlinge eine Beschäftigung eigentlich nur aufnehmen dürfen, wenn für diese Stelle keine deutschen Arbeitnehmer oder EU-Bürger zur Verfügung stehen, kontingentiert aufzuheben. Das heißt nichts anderes, als die wilde Konkurrenz mit den heimischen Arbeitskräften im Interesse der Arbeitgeber einzuleiten. So wird auch gleich die Katze aus dem Sack gelassen. Und schon gar nicht hat Nahles daran gedacht, daß die von China und anderen Ländern abhängige deutsche Konjunktur mit entsprechenden Folgen für den Arbeitsmarkt sehr schnell abkippen kann. Will sie dann die Flüchtlinge zurückschicken oder hat sie einen anderen Joker im Ärmel?
Selbst in dem immer wieder wegen seiner vergleichsweise liberalen Einwanderungspolitik und seiner sozialen Standards gepriesenen Schweden arbeitet die Hälfte derer, denen vor 10 Jahren Asyl gewährt wurde und die im Lande geblieben sind, zu einem Lohn von nur 55 % des durchschnittlichen Medians, nach der internationalen Armutsdefinition also in Armut. Wohin das führen kann, zeigen neue Umfragen aus Schweden, wonach die immigrationsfeindliche Partei derzeit die stärkste Zustimmung aller politischen Parteien erfährt. Auf diesem Feld werden ein weiteres Mal die Interessen derer in der heimischen Bevölkerung verraten, die der Konkurrenz der neuen Billigstarbeitskräfte rücksichtslos ausgesetzt sein werden, und deren Interessen wahrzunehmen, die Parteien sonst immer behaupten. Hinzu kommt, daß Flüchtlingsheime bevorzugt dort eingerichtet werden, wo die ohnehin sozial Benachteiligten leben, nicht aber in den feineren Vierteln der Großstädte. Auch wird bei der Verteilung der Flüchtlinge in Deutschland weder das Niveau an örtlicher Arbeitslosigkeit, noch der bereits erreichte Ausländeranteil berücksichtigt - besonders wichtige soziale Faktoren. Erneut werden damit gerade diejenigen Mitbürger einseitig belastet, von denen die Parteien vorgeben, sich für sie einsetzen zu wollen. Auch das ist nichts anderes als eine perfide Form von Verrat, zumal das Ganze gern humanitär verbrämt wird.
Sobald es um die nackten und meist brutal durchgesetzten Interessen des Kapitals geht, verraten fast alle deutschen Parteien willfährig die Interessen derer, die auf ihren Schutz angewiesen sind und angeblich von ihnen geschützt werden.

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